Die Worte wandern über das Papier. Sie kommen über den oberen Rand, ziehen nach unten weiter, wieder hinaus. Sie folgen einer Bahn entlang unsichtbarer Rundungen, angeschnittene Kreise, die sich von den Seiten ins Bild schieben. Der Graphit ist weich. Man erkennt die Schwünge der Buchstaben, doch die Schrift verwischt. Blaue Linien fliessen über das Blatt ohne klare Richtung. Wie ein leicht transparentes Tuch, das über das Papier gefallen ist und dessen Gewebe eine feine Topografie formt.
Die beschriebene, zufällig ausgewählte Zeichnung ist Teil von «Beginnings – Becoming» von Dagmar Bühler. Die Serie entstand nach einer durch Mutterschaft bedingten Schaffenspause. Ein neuer Anfang. Aber was bedeutet Anfang? Die Schweizer Künstlerin Mireille Gros, an die ich bei dieser Frage denken muss, würde von «Anfangseinfangen» sprechen. Jede neue Zeichnung beginnt am Punkt null, ist aber eingebunden in einen grösseren Kreislauf von Geburt und Tod, Entstehen und Vergehen. «Beginnings – Becoming» markiert denn auch keinen Bruch, keinen Neuanfang, der vergessen will. Die fliessenden Linien, die wandernde Schrift und die schwebenden Formen sind offen und in Bewegung. Sie verordnen nichts, sondern ziehen frei von Bild zu Bild und bilden sich immer wieder neu.
«Beginnings – Becoming» ist ein Tagebuch. Die rund vierzig Zeichnungen entstanden von Dezember 2020 bis Juli 2021 im Engadin in der Schweiz. Sie sind auf der Rückseite datiert und mit einer Erinnerung an den Tag versehen. Dagmar Bühler begann jedes Werk schreibend, als versuchte sie, schreibend ins Zeichnen hineinzufinden. Sie notierte Gedanken, Erlebnisse, aber auch Briefe an ihre Familie ohne Punkt und Komma, ohne Abschnitte, die den Text strukturieren würden. Eine écriture automatique, deren Spur sich verwischt. Die Künstlerin belässt ihr Innenleben trotz der Form des Tagebuchs im Geheimen. Sie radiert die Texte aus oder überschreibt sie bis zur Unlesbarkeit. Zurück bleiben palimpsestartige Schriftbilder, die es nicht zu entziffern gilt: die Schrift hat ihren Zweck im Akt des Schreibens erfüllt.
Das Vorgehen erinnert mich an die «Eigenschriften» von Irma Blank. In dieser Serie aus den späten 1960er Jahren füllte sie das Papier mit inhaltsleeren Zeichen, die sie unablässig wiederholte. Auch sie verstand die Serie als Tagebuch, das ihr half, ihren Umzug aus Norddeutschland nach Süditalien zu verarbeiten. Braucht Dagmar Bühler das Schreiben zur gedanklichen Reflexion, ist es bei Irma Blank eine meditative Praxis, die Disziplin und Konzentration erfordert und sie deshalb meist nachts in Stille und Einsamkeit arbeiten lässt. Doch beide Künstlerinnen nutzen das Ritual des Tagebuchs und das «schreibähnliche Verfahren», um nach einer tiefgreifenden Veränderung wieder ihren eigenen künstlerischen Raum zu finden.
Vergleicht man die Serie «Beginnings – Becoming» von Dagmar Bühler mit ihren früheren Arbeiten, gewinnt man den Eindruck, als hätte sich etwas geöffnet. Die Linien, die vorher innerhalb fester Formen zirkulierten, fliessen nun frei. Die Energie konzentriert sich nicht mehr auf einen Körper, der von den Papierrändern gerahmt wird. Die Worte, Linien und Formen gehen leicht und unbeschwert über die Grenzen des Papiers hinaus. Das Papier verliert die Bedeutung eines Zeichengrunds, die Festigkeit eines Bildträgers. Im Spiel mit der Transparenz erhält es die Qualität eines atmosphärischen Luftraums, in dem Schrift, Linien und Formen als momentane Konstellationen erscheinen.
Diese Wirkung wird unterstützt von den kreisförmigen Körpern, die wie Himmelsgestirne in fast allen Zeichnungen auftauchen: angeschnitten oder ganz, in verschiedenen Grössen, selten als Umrisslinie, als ausgelassener Weissraum des Papiers, deckend oder transparent in Acryl oder mit Filzstift. Sie kommen von aussen ins Bild, und treten uns gegenüber, konfrontieren uns mit anderen Formen, anderen Körpern. Ich kann mir gut vorstellen, wie Dagmar Bühler an ihrem Fenster im Engadin sass und in der klaren Luft dieses von Niederschlägen geschützten Hochtals auf die markanten Silhouetten der Bergmassive blickte; wie sie die Sonne sah, den Mond oder einen hell leuchtenden Stern, die als kräftige Formen am Himmel standen.
Viele der Arbeiten aus «Beginnings – Becoming» zeichnete Dagmar Bühler nachts oder in der Dämmerung. Mit sehr kleinen Kindern ändert sich der Zeitrhythmus. Tag und Nacht lösen sich auf in Wach- und Schlafphasen. Vielleicht hatte sie eines ihrer Kinder geweckt und sie begann eine neue Zeichnung in der wieder eingekehrten Stille, der Dunkelheit. Anders als Irma Blank, die sich nachts bei elektrischem Licht ganz auf sich selbst konzentriert, richtet sich Dagmar Bühlers Aufmerksamkeit nach innen und aussen. Die Linien, die von Papier zu Papier strömen, scheinen einen ganzen Raum zu umfassen. Schwingen, unter denen die kleinen Kinder schlafen. Ein Gewebe, das traumähnliche Landschaften formt, die beim nächsten Windhauch in neue Hügel und Täler übergeht.
Mit Nacht verbinden sich sowohl Geburt als auch Tod. Sie steht für das Imaginäre, das Irrationale, das Dunkle, das sowohl bedrohlich wie auch befreiend ist. Für Louise Bourgeois war sie beides in einem. Die an Schlaflosigkeit leidende Künstlerin schuf die zweihundertzwanzig Arbeiten ihrer «Insomnia Drawings» zwischen 1994 und 1995 in zahllosen schlaflosen Nächten. Sie kritzelte, schrieb und zeichnete, um in den Schlaf hineinzufinden, aber auch um Zugänge zu ihrem Unterbewussten freizulegen. Die Zeichnungen, die sie als Tagebuch begriff, hatten eine therapeutische Funktion, indem sie sich schonungslos ihren Kindheitstraumas und Ängsten stellte. Dagmar Bühler hingegen stürzt nicht in die Dunkelheit. Die Worte, mit denen sie mitunter auch schmerzhafte Ereignisse beschreibt, werden von den Linien aufgehoben und fortgetragen in eine universelle Sphäre, wo beginnings und becoming eins sind.
Publiziert in:
Dagmar Bühler «Beginnings – Becoming»
Künstler:innenbuch, Eigenverlag,
2021
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