Wie nehmen wir heute Natur wahr? Im Haus für Kunst Uri sind dazu 36 künstlerische Positionen aus der Schweiz und Südamerika versammelt. Ihre Werke sind poetisch, subversiv, humorvoll und ganz und gar künstlerisch. Die Wissenschaft kommt in einer schönen und gratis abgegebenen Publikation zu Wort.
Nehmen Sie den Zug nach Altdorf. Schauen Sie aus dem Fenster. Was sehen Sie? Führt Sie das Türkisblau des Urnersees in Gedanken zum Bad in kristallklarem Wasser, die Grüntöne der Wälder und Matten zum herzhaften Picknick in summendem, duftendem Gras? Oder suchen Sie sofort nach dem Weiss von Eis und Schnee, das, Sie wissen es verdampft, versickert im grauen Gestein des Gitschen und Uri-Rotstock. Die Fahrt ins Haus der Kunst Uri bietet die perfekte Einstimmung in die Ausstellung über unsere Wahrnehmung von Natur, die sich, so die Prämisse, zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit hin und her bewegt. Es ist ihr grosses Verdienst, dass sie weder erklären noch moralisieren will. Als Besuchende werden wir in die Beziehung der beiden Pole hineingezogen und mit wechselhaften Gefühlen konfrontiert. So etwa, wenn wir uns genüsslich dem Meeresrauschen der schleifenden Plattenspielernadeln (Marianne Halter & Mario Marchisella) hingeben oder leicht melancholisch Caetano Dias zuschauen, wie er sein Boot mit Wasser füllt, bis er damit untergeht.
Auf einer zweiten Ebene ist die sorgfältig kuratierte Schau als Reise «von Amazonien in die Alpen» angelegt. In der Alliteration zeigt sich auch hier der poetische Impetus. Wir reisen nicht von A nach B, sondern tauchen ein in einen künstlerischen Kosmos, in dem sich Kunstschaffende beider Erdteile mit unserem Verhältnis zur Natur auseinandersetzen. Es geht nicht ums Vermessen oder Vergleichen. Die Landkarte ist von Wolkenschleiern verdeckt wie in den Werken von Daniel Wicky. Als Kompass dient die wunderbare Videoarbeit von Javier Téllez «Letter on the Blind, for the Use of Those Who See» am Beginn der Ausstellung, in der wir sechs Blinde beim Betrachten sprich Befühlen eines Elefanten zusehen und zuhören können. Sie macht einen die Grenzen und Unzulänglichkeiten des eigenen Sehens bewusst und stimuliert gleichzeitig unsere verfügbaren Sinnesorgane. Dermassen eingestimmt, erleben wir die subtile Dramaturgie der Ausstellung als Gang durch die Elemente. Im Erdgeschoss begegnen wir Erde, Feuer und Wasser und steigen dann ins windige, luftigere Obergeschoss auf. Die Seifenblase, die sich fortwährend verformend durch die Landschaft schwebt, hinterlässt bleibenden Eindruck (Cao Guimãraes & Rivane Neuenschwander). Man wünscht sich, dass sie nie zerplatzen möge. Im Gegensatz dazu betrachtet man nahezu gleichgültig, wie Blattschneideameisen eine Tausendernote zerkleinern und verspeisen.
Erschienen anlässlich der Ausstellung
Natur. Zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit. Von Amazonien in die Alpen
Haus für Kunst Uri, Altdorf
14. September bis 24. November 2019
hausfuerkunsturi.ch
Publiziert in:
Kunstbulletin 11/2019, S. 68/69.
kunstbulletin.ch
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