Maude Léonard-Contant – Grasklingen
Maude Léonard-Contant, «Mes ancolies», 2023, Plissierter Organza, Satin, Tüll, Holz, Leder, Stahl, Magnete, Seidenkokon, Akelei Schneekönigin (ancolie snowqueen), schwarzviolette Akelei (ancolie noirâtre), Kaktusdornen, Wald-Veilchenblätter, Stachelschweinnadel, Foto: Moritz Schermbach.

Sprache und Skulptur durchdringen sich im Werk von Maude Léonard-Contant. Sie liess die Möglichkeiten des Publikationspreises ‹spot on› der Stadt Luzern nicht ungenutzt, das Buch mit der Ausstellung im Kunstmuseum Luzern zu verbinden. Im stummen Skulpturenreigen ist die Sprache unterdrückt. Doch tritt sie ein über die sprechenden Namen der Pflanzen, welche die Künstlerin in ihrer ursprünglichen Heimat Kanada und der Schweiz gesammelt und den Werken angefügt hat. Eine höchst inspirierende Ausstellung über Verschwinden und Erscheinen, Welt und Sprache.

«Écoute», ruft mir das gross anschwellende Wort auf der Titelseite von Maude Léonard- Contants Monografie zu, die pünktlich zur Ausstellung im Kunstmuseum Luzern erschienen ist: Wenn du über diese Bildhauerin schreibst, achte nicht nur auf Form und Material. Du musst auch zuhören, wie die Sprache ihre Skulpturen beseelt.

Der vollständige Satz lautet «Écoute, la croûte se fend» und ist auf Französisch, Englisch und Deutsch aufs Cover geschrieben: «Listen, the crust is cracking». «Hör hin, die Kruste reisst». Es sind die drei Sprachen, in denen sich Léonard-Contant bewegt. Aufgewachsen im wahrsten Sinne des Wortes im Wald in der französischsprachigen Region Québec in Kanada, hat sie auf Englisch in Montreal und später im schottischen Glasgow studiert. Seit zehn Jahren lebt sie in der Schweiz, wo Deutsch und das Potpourri schweizerdeutscher Dialekte hinzugekommen sind.

«Wo esch das wo?» gruben sich 2020 die Worte denn auch in breitem Luzerner Dialekt in den Ölsand der grossflächigen Installation ‹No Edit Can Fail Tint›, die aufgrund der Pandemie insgesamt nur zwei Wochen im Kunstmuseum Luzern zu sehen war. 2022 schloss Léonard-Contant in ihrer Einzelausstellung ‹Digs› im Kunsthaus Baselland daran an und realisierte eine begehbare Landschaft aus Sand und Sprache (→ KB 11/2022, S. 82/83). Schaut man sich frühere Arbeiten wie diejenige in der Jahresausstellung im Kunstmuseum Luzern 2019 an, scheint dort Schrift bereits in den zeichenhaften Spuren angelegt gewesen zu sein, die Léonard-Contant aus der Landschaft in ihre Skulpturen übertragen hat.

 

Erscheinen und Verschwinden

Eine Sprache erlernen bedeutet heimisch werden an einem Ort und in einer Kultur. Doch ist die Künstlerin auch in Spalten gefallen, in denen sie «lost in translation» war, oder die Leerstellen sah, die zwischen der Sprache und der Welt bestehen. Im Schreiben habe sich ihr die Spannung zwischen Erscheinen und Verschwinden offenbart, sagt sie mir, eine Spannung, die auch in ihrem bildhauerischen Werk von Bedeutung ist.

Ich schlage das Buch auf. Seine beidseitig bedruckten Papierbögen wurden gefaltet und an ihren offenen Enden gebunden. Ein Teil des Buches bleibt mir verborgen. Will ich ihn sehen, muss ich die Seiten aufreissen. Noch kann ich mich nicht dazu entscheiden, das Objekt zu verletzen, und klappe stattdessen den äussersten Umschlag aus. Ein randabfallendes Bild einer textilen Struktur aus schwarz gefärbter, plissierter Seide breitet sich über das Buch aus und verschluckt seine Worte.

Im Kunstmuseum Luzern treffe ich den Stoff wieder, nun als Teil eines Werks mit dem Titel ‹Herbe aux chantres› (Weg-Rauke, Sängerkraut). Die Sprache hat sich auf die Beschriftungstafel zurückgezogen, von wo aus sie nicht weniger kraftvoll ausschwärmt. Jede der sieben Skulpturen, die Léonard-Contant für die Ausstellung geschaffen hat, trägt den sprechenden Namen einer Pflanze. Zum Sängerkraut gesellen sich ‹Cattails› (Rohrkolben) und ‹Racines froides› (Butterblume). Und auch die Materialzeilen laufen über mit üppigen Worten: Baumwolle, Königskerzenblätter, Wildschweinstacheln, Seifenkraut und Süssgras, Kaktusdornen und Tüll. Angesichts dieser sprachlichen Überfülle lässt sich erahnen, was die Künstlerin meint, wenn sie sagt, dass das Schreiben – es ersetzt bei ihr das Skizzieren – auch mal eine Skulptur zum Verschwinden bringen könne.

Doch die Werke sind da, still und schweigend. Die Ausstellung sollte ein Gegenstück zum redseligen Buch sein, sagt die Künstlerin. Der Ausdruck «en voie d’extinction», vom Aussterben bedroht, war ihre Skizze. Er bezieht sich auf den Stimmverlust («extinction de voix»), den Léonard-Contant als Kind öfters erlebte, aber auch auf gefährdetes Handwerk wie das Plissieren oder auf bedrohte Pflanzen. Die Atmosph.re im Ausstellungsraum ist denn auch kühl. Die auf Graustufen reduzierte Farbigkeit harmoniert mit der harten Architektur, deren Deckenlichter brutal den Raum durchschneiden. Es herrscht eine Glätte, wie sie nur der Traum kennt, klar, aber voller unterdrückter Gefühle und Spannungen. Die Werke bilden mit einem Repertoire aus Formen und Materialien immer wieder andere rätselhafte Konfigurationen. Eine graue Lederskulptur dreht sich in wechselnden Positionen und Konstellationen durch den Raum, zeigt sich stets verschlossen, mal als Faust, als Muschel oder Graburne. Auch der rauchende Kopf einer Figur von Philip Guston wurde schon gesichtet – selbst der Humor hat bei Léonard-Contant etwas Melancholisches.

Mise sous presse

«Mise sous presse», Drucklegung, ist ein zweites Leitwort, unter dem die Künstlerin für ‹spot on› das Buch mit der Ausstellung verschränkt. Druck ist in den Skulpturen präsent in der Art, wie Formen und Materialien erzeugt wurden. Er findet sich im gespannten Leder, in den Stoffen, die der Maître Plisseur Karen Grigorian in Paris mit hohen Temperaturen und Wasserdampf in Falten legte, oder in der Spinnmasse, welche die Seidenraupe aus sich herausgepresst hat.

Die schönste Korrespondenz zwischen Buch und Ausstellung bilden die zahlreichen (Blüten-)Blätter, die Léonard-Contant mit höchster Sorgfalt zwischen die Stofffalten gelegt oder mit Pferdehaar angen.ht hat und die sie bis in den Spätsommer ergänzen und verändern wird. Sie sammelt sie selbst und presst sie in Büchern, früher waren es Wörterbücher, heute meist Romane, die eine literarische Verbindung zur jeweiligen Pflanze aufweisen. «Diese Bezüge sind für mich wie kleine Witze, die ich mir erzähle, oder Lesesouvenirs, die ich reaktiviere», sagt sie.

 

Grasklingen und Süssgräser

Die Pflanzen erzählen wiederum zahlreiche Geschichten, die Léonard-Contant aufschreibt und auf der Website des Museums zu lesen geben wird: von den Wald- Veilchen, aus denen die Mutter den Sirup als Medizin gegen ihre Stimmausfälle kochte, oder von den Mohnblumen, die immer vor den langen Ferien blühten und welche die Kinder als rituelles Geschenk zum Jahresende für die Lehrer:innen pflückten. Die dunkelste Erzählung verbirgt sich in der nach der Schwarzen Schwertlilie benannten Skulptur ‹The night rules›, die ihr weisses Satinkleid wie Schwingen auf dem Boden ausbreitet. Die Blume war der Stolz ihrer Mutter, die diese züchtete. Umso grausamer der Akt, als die Tochter in einem alkoholisierten, jugendlichen «act manqué», wie sie sagt, die Blume aus Imponiergehabe und dem Wunsch nach Emanzipation zerstörte.

Die Schwertlilie ist nicht die einzige Pflanze, die eine Waffe im Namen tr.gt. Auch die «blades of grass», Grashalme, haben scharfe Klingen, die im Deutschen zugleich schneiden und klingen. Léonard-Contant hat sie in Form von Süssgräsern in die Werke integriert. Lange hatte sie in der Schweiz nach dem «Sweetgrass» gesucht, eine von den First Nations in Nordamerika verehrte Pflanze, und sich zugleich gefürchtet, sie zu finden – zu gross ist ihr Respekt, sich diese heilige Pflanze anzueignen. Durch ein Missverständnis in der Übersetzung hat sie schliesslich eine ganze Pflanzenfamilie entdeckt. Denn, nur das Mariengras entspricht dem «Sweetgrass», während Süssgräser im Deutschen zahlreiche Pflanzen umfassen.

In der Ausstellung hat die Künstlerin ein Bündel Süssgräser in die Stoffrollen von ‹Racines froides› gelegt, eine behutsame Geste, die sowohl all den vernachlässigten Gräsern als auch der Autorin Robin Wall Kimmerer Tribut zollt, deren Buch «Braiding Sweetgrass» indigenes Wissen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen verwebt. Gefässe wie die Rollen finden sich an so vielen Stellen dieser Skulpturen – seien es Falten oder ein zum Schoss aufgespannter Stoff. Was sie fassen können, bleibt unausgesprochen. Aber plötzlich meint man es in der Stille knistern und knacken zu hören. Und dies ist nicht der Druck, der etwas gewaltsam niederhält, sondern jener, der etwas wachsen und sich entfalten lässt: Écoute, la croûte se fend».

Erschienen anlässlich der Ausstellung

spot on Maude Léonard-Contant

Kunstmuseum Luzern

10. Juni bis 17. September 2023

kunstmuseumluzern.ch

 

Publiziert in:

Kunstbulletin 9/2023, S. 58–67.

kunstbulletin.ch