«Formlabor» – der Titel der Serie leuchtet wie ein Schild am Eingang zur Dunkel­kammer. Die fotografischen Arbeiten, die bisher daraus hervorgegangen sind, haben den Charakter von Experimenten. Die Ausgangs­lage bilden Kreise, Kreis­segmente, Recht­ecke und komplexere Formen. Die Bilder variieren diese Elemente in unter­schiedlichen Anordnungen und Grössen. Es ist eine Komposition aus Licht und Schatten, in der die üblichen Orientierungs­punkte wie Material, Volumen und Technik fehlen. Alle Versuche, den «Gegen­stand zu sichern» führen denn auch zu Wider­sprüchen und Rätseln. Der Hinter­grund wird Vorder­grund, die solide Fläche löst sich auf und wird Raum, Durch­blicke verfestigen sich zu kreis- oder rechteck­förmigen Scheiben. Zum Teil erscheinen die Ränder der Formen wie angesengt oder geätzt, dann wieder schummrig oder so, als würde ein feiner Film sie überziehen. Weich oder spröd, die Qualitäten lassen sich nicht mit Sicher­heit bestimmen. Wären es Zeichnungen oder Gemälde, man würde nicht unbedingt versuchen, ihre Ent­stehung genau zu rekonstruieren. Anders bei einer Fotografie. Da möchte man die Objekte oder Orte identi­fizieren, die ihren Abdruck auf dem Papier hinter­lassen haben.

Transformation und Komposition
Was hat Max Leiß fotografiert? Die Ent­stehung der Bilder lässt sich nicht einfach zurück­verfolgen. Ihnen geht ein viel­schichtiger Prozess der Trans­formation und Kompo­sition voraus. Bilder werden fragmentiert, vergrössert, neu zusammen­gesetzt. Es ist «mixed Media» im wahrsten Sinne. Eine Mischung aus Assem­blage, Collage, Foto­gramm, analoger Foto­grafie und digitaler Bild­bearbeitung. Konkret begann Leiß damit, übereinander­gelegte Zeichen­schablonen direkt auf licht­empfindlichem Papier zu belichten. Die Foto­gramme scannte er und wählte Ausschnitte, die er vergrösserte und digital bearbeitete. Von diesen Bildern erstellte er verschiedene Laser­drucke, aus denen er neue Kompo­sitionen schuf, die er dann mit einer Kamera auf analogen Film übertrug und in der Dunkel­kammer auf Baryt­papier belichtete. Die Serie «Fotolabor» markiert eine neue Kategorie im Werk von Max Leiß. Der Umgang mit Foto­grafie unterscheidet sich stark von ihrer bisherigen Rolle. Seine früheren Fotografien zeigen Objekte oder Situationen aus der all­täglichen Umgebungs­welt, die er aufgrund ihrer plastischen Qualitäten festhielt und nicht weiter manipulierte. Die Foto­gramme benutzt er hingegen als Material. Er behandelt sie in einer Weise, die mit seiner skulpturalen Arbeits­weise verwandt ist. So gaben auch Fund­stücke, in diesem Fall Zeichenschablonen, die Impulse für die Werkidee. Und so wie Leiß in seinen Skulpturen einzelne Elemente aus einem ursprünglichen Ganzen herauslöst, fragmentiert und neu kombiniert oder den Massstab verändert, so setzt er dieses «Set an bild­hauerischen Handlungen»(1) auch in «Formlabor» ein. Nur ist hier das Objekt, sobald es auf Papier gebannt ist – weg. Der Künstler verlagert den Prozess auf die Bild­ebene. Per Maus­klick verkehrt er das Positiv in ein Negativ, zoomt bis man den Eindruck einer mikro­skopischen Ansicht erhält und setzt die verschiedenen Fragmente in Collagen neu zusammen.

Fundstücke im Labor
Max Leiß fasziniert, «dass das, was eigentlich nur funktional ist oder war, so eine unheimliche Variation von Formen hervor­bringt»(2). Die Zeichen­schablonen, die «Formlabor» zugrunde liegen, dienten einst Architekten, Landschafts­architekten und verwandten Berufen zum Zeichnen ihrer Pläne, bevor sie durch Computer­software obsolet wurden. Leiß nimmt dieses Formen­vokabular auf und prüft es spielerisch, indem er mit verschiedenen Mass­stäben, Aus­schnitten und Kombi­nationen experimentiert. Die Serie lehnt sich damit stark an die visuelle Sprache von Max Leiß’ «Ausgabe#»-Hefte an, die er seit 2011 publiziert. Diese beinhalten Collagen aus Drucken, Fotografien, Kopien und Text­ausschnitten, die ihm als persönlicher Zeichen­satz dienen und seinen künstlerischen Ansatz offenbaren. In «Formlabor» arbeitet der Künstler mit einer Versuchs­anordnung aus Zeichen­schablone, Foto­gramm und Bild­bearbeitungs­software, die immer gleich bleibt. Jedes Werk der Serie stellt einen Versuch dar, unter denselben Bedingungen ein neues Bild zu kreieren und damit das bild­hafte und skulpturale Potenzial seiner Fund­stücke auszuloten.

Skulpturaler Zugang zum Bild
Max Leiß verwendet für alle seine Foto­grafien eine analoge Kamera und fertigt die Abzüge eigen­händig in der Dunkel­kammer an. Analog und digital sind in seinem Schaffen zwei gleich­wertige Verfahren. Doch haben das Smart­phone und die digitale Bilder­flut ihn in seinem Interesse bestärkt, einen anderen Umgang mit dem Bild zu suchen. Einen Umgang der körperlicher, hand­werklicher und objekt­hafter ist.(3) «Formlabor» bringt dieses Interesse deutlich zum Ausdruck: für die Herstellung seiner Foto­gramme hantiert er direkt mit dem Gegen­stand; seine Bild­kompositionen findet er mit Cutter und Papier­abzügen. Dieser skulpturale Zugang zum Bild spiegelt sich in Leiß’ inhaltlichen Bestrebungen, «Bilder in Objekte zu verwandeln und Objekte in Bilder»(4). Viele seiner Skulpturen verfügen über stark bild­hafte Qualitäten. Das hat zum einen mit der Art ihrer Präsen­tation zu tun. So installiert der Künstler seine Skulpturen teils relief­artig an der Wand. Zum anderen beschäftigt er sich immer wieder mit der Linie im Raum. Orts­spezifische Arbeiten wie etwa das vierzig Meter lange «Funktionszeichen» aus Schamott im Kunsthaus Basel­land oder seine Gestelle aus Holz und Stahl lesen sich denn auch wie Raum­zeichnungen.(5) Sucht er bei diesen Beispielen nach dem Bild­haften in der Skulptur, so ist es in «Formlabor» genau umgekehrt. Hier experimentiert er mit der Materialität und Räumlichkeit des Bildes. Er montiert die Foto­grafien auf Aluminium­kästen, um ihnen einen Körper zu geben. Er legt mehrere Schablonen übereinander, damit die Formen Tiefe und Volumen erhalten. Und er betont die Materialität der Gegenstände, indem er die Foto­gramm­technik einsetzt. Diese gibt die Gegen­stände zwar abstrakter wieder, doch scheint sich der Fokus gerade dadurch auf die Form und das Material zu verschieben und zum Objekt­charakter der Werke beizutragen.

Formerlebnis
Die wechsel­seitige Beziehung zwischen Objekt und Bild macht Max Leiß auch in seinen Aus­stellungen und Publi­kationen deutlich. In präzisen Kompo­sitionen setzt er seine an sich eigenständigen Skulpturen und Fotografien miteinander in Beziehung. Sie bereiten sich damit gegen­seitig den Boden für ihre Rezeption. Die Betrachtenden sind eingeladen, die Verbindungen zu erleben, ihnen nachzuspüren und dabei in den Schaffens­prozess des Künstlers einzutauchen. In seinen früheren Foto­grafien entdeckt man so den «skulpturalen Blick», mit dem Leiß in Strassen und Land­schaften auf Form­sammlung geht. Seine Auf­nahmen heben Formen oder Assem­blagen aus dem Alltag, die von uns meist unbeachtet in unserer Lebens­umwelt existieren. Auf diesem Hinter­grund kann man seine Skulpturen als Fragmente lesen, die aus einem solchen beiläufigen Alltags­kontext stammen. Seit 2018 findet auch das «Formlabor» Eingang in die Werk­konstellationen. Im tschechischen Zlín präsentierte Leiß erstmals mehrere groß­formatige Abzüge der Serie zusammen mit Skulpturen. In dieser Ausstellung verlor die Frage nach der Verortung der Formen an Relevanz. Man war zwar immer noch versucht, die bild­haften und skulpturalen Zeugnisse wie eine Archäologin zu ergründen, doch konnte man sich auch rein der Erfahrung dieser ein wenig rätselhaften Formen hingeben.

10. Januar 2020

1 Max Leiß im Gespräch mit Meret Arnold, November 2019.

2 Ebd.

3 Max Leiß, 2018.

4 Siehe «Funktionszeichen», 2016; bzw. «Castolin, einseitig», 2013 und «Sie haben ihr Ziel erreicht», 2013.

5 Kat. Kunsthaus Baselland 2016, S. 79.

Max Leiß – Formlabor

Text anlässlich der Ausstellung
«Figurae», Galerie Kabinet T., Zlín CZ
7. November bis 28. Dezember 2019
maxleiss.de
kabinett.cz

Publiziert in:
Ausgabe #36
Mark Pezinger Books
Wien 2020
markpezinger.de

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