Der Weg ins Zimmermannhaus folgt einer eigenen Choreographie. Wir biegen um Ecken, steigen Treppen hier- und dorthin, überqueren einen Hinterhof, gehen wieder zurück über eine Galerie, durchschreiten eine Tür, dann noch eine. «Die Weglinie ist sehr erzählerisch», sagt Angela Anzi. Für die ortsspezifische Installation Sentimental Organs nimmt sie ihre Bewegung auf und schreibt sie weiter. Geschwungene Papierbahnen leiten uns ins Innere.

Das Papier überzieht eine blaue Struktur. Sie zeichnet den Verlauf von Farbe im Wasser nach, wo sie sich verflüssigt oder verdichtet hat. Jetzt, in getrocknetem Zustand, gleichen die Spuren Fossilien, ihre feinen Verästelungen Flechten, die sich über die Jahre ausgebreitet haben. Wir folgen der Bahn. Das Licht wird kühler. Getönte Scheiben dämpfen die Aussenwelt und rücken sie in die Ferne. Über die gerundete Papierkante werden wir in eine bizarre Landschaft befördert.

Karg erscheint sie. Die Farbstrukturen wirken nun wie Ausblühungen von Salzen, die das verdunstende Wasser abgelagert hat. Der harte Klinkerboden glüht heiss in seinem feurigen Rot. Terrakotta – gebrannte Erde. An einigen Stellen hat sie säulenartige Formationen hervorgebracht. Davon sind zwei mit einer dünnen Glasur aus Silberbronze überzogen und schwarz oxidiert. Die Skulpturen, die wie Fragmente vergangener Bauten erscheinen, sind vergrösserte Nachbildungen von Brennnesseln. Die Segmente geben das Wachstum der vier- bis sechskantigen Stängel wieder. Auf ihnen und am Boden verteilt liegen Blüten, die teils an altertümliche Gefässflöten erinnern.

Die Brennnessel ist eine Pflanze, die dort gedeiht, wo der Mensch Kulturland aufgegeben hat. Wie das architektonische Bruchstück verweist sie auf einstiges Leben. Doch ganz verlassen scheint der Ort nicht zu sein. Am Rand führt eine Leiter zu einer Ablage aus Holz, die mit Baustützen knapp unter der Decke eingespannt ist. Darauf sind moderne Gerätschaften zu erkennen: ein Verstärker, Oszillatoren, ein Synthesizer. Ein wenig erinnert diese Anlage an eine Forschungsstation, doch braucht die Künstlerin die Werkzeuge nicht, um Messungen anzustellen, sondern, um die Installation – in den Worten von Angela Anzi – «in Betrieb zu nehmen».

Wer sich vergangene Arbeiten der Installations- und Performancekünstlerin anschaut, weiss, wie skurril und poetisch diese Inszenierungen sein können. In ihren Hilfestellungen an Objekten beispielsweise sehen wir sie als gewissenhafte Fachkraft, die einem genauen Plan zu folgen scheint, wenn sie konzentriert und zielstrebig Objekte verschiebt, Stromquellen ein- und wieder ausschaltet, auf- und abbaut, neu arrangiert. Die Sinnfrage erübrigt sich in der Selbstverständlichkeit des Ablaufs.

Die Performance an der Eröffnung verwandelt die Sentimental Organs in einen lebendigen Organismus. Mit Wind und Schall versetzt Angela Anzi die Skulpturen in Bewegung und bringt sie zum Klingen. Die Luft spielt auf der Flöte; die Oszillatoren lassen die Membranen der in den Stängeln platzierten Lautsprecher vibrieren; Ultraschall, eine Frequenz, die wir weder hören noch spüren, transformiert das in der Blüte aufgefangene Wasser zu Dampf, der ausströmt und die Landschaft befeuchtet.

«Mich interessiert das Verhältnis von Objekt und Klang, die Wechselwirkung zwischen Sehen, Hören und Fühlen», sagt Angela Anzi. Ist Sentimental Organs in Betrieb, werden die Skulpturen zu Klangkörpern, die eine neue Räumlichkeit schaffen. Diese erfahren wir mit dem ganzen Körper. Die Wellen dringen nicht nur in unser Ohr, wir spüren ihren Druck auf der Haut als Berührung. Das Gefühl der Berührung wirkt nach, während wir aus der Distanz mit unseren Augen die Landschaft durchmessen. Ein Film, den die Künstlerin ausgehend von der Performance entwickelt, wird das ephemere Ereignis weiterleben lassen, dann, wenn die Töne verhallt und die Szenerie verschwunden sein wird.

Angela Anzi – Sentimental Organs

Christine Bänninger | Angela Anzi – «Splash & Vibration»
Zimmermannhaus, Brugg
20. August bis 2. Oktober 2022

zimmermannhaus.ch

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zimmermannhaus.ch

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