Mit Jürg Altherr durch das Archiv für Schweizer Landschaftsarchitektur (ASLA)

Jürg Altherr, Albert Baumann, Ernst Cramer, Dezallier d’Argentville, Verena Dubach, Arthur Kehl, Charles Lardet, Arthur Mangin, Leberecht Migge, Willi Neukom

«Die Leere ist nicht nichts. Sie ist die Materie, mit der wir arbeiten. Ihr gilt es Kontur zu verleihen.» Jürg Altherr (1944–2018) äusserte diese Sätze im Alter von 73 Jahren. Er sprach als Künstler und Landschaftsarchitekt. Doch was ist die Leere, wenn sie nicht nichts ist? Jürg Altherr beschrieb sie als «Ort, wo die Erde die Unendlichkeit küsst». Leere entstand für ihn dort, wo der Raum zwischen Himmel und Erde offen blieb und der Mensch eine Verbindung zum Universum aufbauen konnte. Für diesen Zwischenraum imaginierte und realisierte er grosse Skulpturen, in denen die Landschaft Teil des künstlerischen Werks wurde.

Die Verschränkung von Kunst und Landschaftsarchitektur bildet denn auch die Grundlage für die Ausstellung, die von der Gebert Stiftung für Kultur* in Zusammenarbeit mit dem Archiv für Schweizer Landschaftsarchitektur (ASLA) entstanden ist. Das Archiv verwaltet und erforscht die Vor- und Nachlässe bedeutender Schweizer Landschaftsarchitekt:innen. Seit 1982 ist es an der Ostschweizer Fachhochschule (OST) in Rapperswil-Jona beheimatet, an der Jürg Altherr, nachdem er bereits zehn Jahre erfolgreich als Steinbildhauer tätig gewesen war, von 1973 bis 1976 studierte und später unterrichtete. Jüngst wurde dem Archiv ein Teil seines Nachlasses übergeben. Die Ausstellung nimmt dies zum Anlass, sein Werk in den Dialog mit Arbeiten von Landschaftsarchitekt:innen wie Albert Baumann, Ernst Cramer, Verena Dubach und Willi Neukom treten zu lassen.

Umgang mit der Natur
Den Anfang macht das Werk Heckenkörper – Körper ohne Haut, das Jürg Altherr zwischen 1994 und 1998 für die Eidgenössische Materialprüfungsanstalt EMPA in St. Gallen schuf. Die gleichsam konstruierte und gewachsene Skulptur bildet ein Scharnier zwischen Kunst und Landschaft. Wie ein Gerippe liegt das 7 x 72 x 15 Meter grosse Stahlgerüst in der urbanen Landschaft. Ein durchlässiger Körper, der den Blick auf alle Seiten öffnet und zwischen den verschiedenen Fragmenten vermittelt: dem Flecken Grün, dem Bach und dem Spickel Riedland als Reminiszenzen des einstigen Sumpfgebiets, den Strassen und Parkplätzen, der Industrie und dem Gewerbe, den Büro- und Wohnbauten. Zwischen die Rippen hat Jürg Altherr über vierhundert Hagebuchen gepflanzt. Sie verwandeln im Zyklus der Jahreszeiten die Gestalt der Skulptur. Karg im Winter, wild wuchernd im Frühling, in Form gebracht im Sommer, welkend im Herbst. Ins Innere des Gerüsts legte der Künstler vier begehbare Rohre, als wollte er im Innersten dieser wechselreichen Umgebung einen geschützten Leerraum schaffen. Der Heckenkörper – Körper ohne Haut spricht grundlegende Themen an, mit denen sich Landschaftsarchitekt:innen auseinandersetzen: Die Gestaltung von Raum mittels Vegetation, der Einbezug der zeitlichen Dimension, die Erfahrung von Natur in den zeitgenössischen Stadtlandschaften.

Dem Werk von Jürg Altherr zur Seite gestellt sind deshalb zahlreiche Exponate aus dem ASLA, die sich besonders mit dem Aspekt der Natur befassen. Zu sehen sind Blätter aus dem Herbarium von Arthur Kehl (1915–2007) sowie Pflanzenstudien und ein Text von Verena Dubach (1927–2002), die bisher als einzige Frau mit einem Nachlass im Archiv vertreten ist. Weiter gezeigt werden Pläne und Illustrationen von Dezallier d’Argentville (1680–1765), Arthur Mangin (1824–1887) und Charles Lardet (1891–1955) sowie Dias zur Gestaltung des Spitals Limmattal (1972) und Kontaktabzüge der Gestaltung des Seeuferwegs in Zürich (1963) von Willi Neukom (1917–1983).

Die Leere gestalten
Die Leere war für Jürg Altherr ein kostbares Gut, dem es Sorge zu tragen galt. Das wird in seiner Postkartenserie Organisation der Leere von 2005 deutlich, die seine notierten und skizzierten Gedanken enthalten. Zur gleichen Zeit entstand sein Entwurf für einen Pavillon am Zürcher Limmatquai. Er gibt einen Eindruck davon, was er unter dem Umgang mit der Leere verstand. Mittels eines filigranen Gerüsts schuf er einen luftigen Raum, der den Ort fasste, ohne ihn festzuschreiben. Sein Projekt wurde zwar nicht realisiert, doch konnte 2019 posthum in Davos ein verwandtes Himmelszelt verwirklicht werden. Bei diesem Werk leiten die Stäbe den Blick in die Höhe und lassen die Passant:innen den Himmel durch einen sternförmigen Rahmen betrachten. Eine gute Einstimmung in die Exponate aus dem ASLA, die anhand konkreter Projekte wie einem Garten von Leberecht Migge (1881–1935) oder Unterrichtstafeln von Albert Baumann (1891–1976) die Gestaltungsmöglichkeiten des Raums in der Landschaft vermitteln.

Beschäftigte sich Jürg Altherr beim Himmelszelt mit der Vertikalen, verfuhr er bei der Arbeit Roter Teppich Ja Ja gerade umgekehrt. In der Performance, die er 2003 gemeinsam mit seiner Tochter Johanna Altherr realisierte, die heute seinen Nachlass verwaltet, spannten achtzehn Performende farbige Bänder quer über eine Waldlichtung. Die Leere erhielt hier nicht über einen Rahmen, sondern über eine rot leuchtende Fläche eine Bühne. Dieses Prinzip wird auch bei Ernst Cramers (1898–1980) Freiflächengestaltung des Schulhaus Menzingen von 1958 aus dem ASLA sichtbar. Er überzog den Eingangsplatz mit einem Streifenmuster aus Asphalt und Naturstein, was dem Platz und dem Raum darüber eine hohe Präsenz verlieh.

Zwischen Himmel und Erde
In zwei weiteren Projekten aus den Siebzigerjahren, der Aussenraumgestaltung der Roche AG in Sisseln und des Postplatzes in Vaduz, fügte Ernst Cramer skulpturale Elemente hinzu, die sich nach oben schlängelten oder wie Rampen schwungvoll in die Höhe führten. Sie treten in Dialog mit Jürg Altherrs Objekt zwischen Himmel und Erde von 1986 und seinem Pendelturm, den er in den späten Achtzigerjahren entwarf. Der Turm steht auf einer Spitze und wird nur durch das Gewicht der Stahlseile stabilisiert. Er hält sich in einer fragilen Balance und ist dem Wind ausgesetzt, der ihn jederzeit ins Schwanken bringen kann. Naturkräfte wie der Wind sind auch ein Thema beim Windrechen von 2010, der im Friedhof Albisrieden das Gemeinschaftsgrab markiert, in dem Jürg Altherr bestattet liegt. Er weht durch das Gerüst aus rostendem Stahl, das sich ursprünglich mit den umliegenden Bäumen verband, bevor diese einem Sturm zum Opfer fielen. Die Stäbe der durchlässigen Wand leiten den Blick einmal mehr nach oben in den offenen Himmel.

Modularität
Die Collagen, Modelle und Zeichnungen zum Windrechen aus den Nullerjahren zeigen Jürg Altherrs Auseinandersetzung mit modularen Stabelementen, die im städtischen Umfeld wie riesige leere Plakatwände wirken. Mit Modulen arbeitet er auch im Entwurf für die Lärmschutzwand der Autobahn in Emmen von 2004. Er verdrehte verzinkte Eisenbleche, deren konkav und konvex gewölbte Flächen eine lebhafte Struktur erzeugten. Der Künstler orientierte sich am Bild einer Schlange, die sich durch die Landschaft windet und deren blauschwarze Haut im Licht aufblitzt. Bereits 1976 entwickelte er für den Friedhof Männedorf im Rahmen seiner Diplomarbeit ein System aus Bauteilen für eine Urnenwand, die sich verschieden kombinieren liessen. Später produzierte er daraus kleine Setzkästen mit geometrischen Körpern aus Messing oder Plexiglas, mit denen man eigene Miniatur-Kunstwerke kreieren konnte.

Jürg Altherrs modulare Werke werden gespiegelt von undatierten Fotografien aus dem ASLA, die Willi Neukoms Gestaltung der Primarschule Itschnach in Küsnacht dokumentieren. Sie zeigt seinen spielerischen Umgang mit Betonelementen, die er auf dem Platz verteilte, zu kunstvollen Skulpturen auftürmte, zu Mauern zusammenbaute oder sie als Sockel oder als Sitzgelegenheit zur Verfügung stellte. Erweitert werden seine Pläne und Fotografien unter anderem mit konstruktiven Zeichnungen von Verena Dubach und Materialien zum Technikum Winterthur aus den Siebzigerjahren von Ernst Cramer.

Eine feine Skulptur, die Jürg Altherr ebenfalls für den Friedhof in Männedorf entwarf, steht am Ende des Ausstellungsrundgangs. Ein Marmorwürfel hängt an einem Faden, der über vier Stäbchen aus Stahl gezogen ist. Lastengleichgewicht heisst das Werk, in dem die zentralen Themen des Künstlers noch einmal zum Ausdruck kommen. Ein offener Raum, in dem die Leere Kontur erhält, und der die Erde mit dem Himmel verbindet. Es zeigt die Vorstellung eines Systems, das nur hält, indem sich die Kräfte gegenseitig ausbalancieren. Ein schönes Schlussbild, das für die gesamte Gestaltung unserer Umwelt gelten kann.

Die Organisation der Leere

Die Organisation der Leere.
Mit Jürg Altherr durch das Archiv für Schweizer Landschaftsarchitektur (ASLA)
Gebert Stiftung für Kultur
3. September bis 16. Oktober 2022

alte-fabrik.ch

Publiziert in:
Saalblatt zur Ausstellung

→ pdf

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