Geschichte taucht in den unter­schied­lichsten Formen an die Ober­fläche und hinter­lässt an uner­warteten Orten ihre Spuren. So zum Beispiel in Zug: In der kleinen Stadt in der Inner­schweiz be­findet sich eine der bedeutendsten euro­päischen Kunst­sammlungen der Wiener Moderne ausserhalb Österreichs. Die Rede ist von der Sammlung Kamm, die 1998 dem Kunsthaus Zug als Dauer­leihgabe übergeben worden ist. Über 400 Werke bilden eine künst­lerische En­klave des Wiens um 1900: Namhafte Künstler wie Herbert Boeckl (*1894), Alfred Kubin (*1877), Richard Gerstl (*1883), Josef Hoffmann (*1870), Gustav Klimt (*1862), Oskar Kokoschka (*1886), Koloman Moser (*1868) und Egon Schiele (*1890) sind mit wichtigen Werk­gruppen vertreten.
Wie kamen die Bilder nach Zug? Die Geschichte beginnt mit dem Wiener Bil­dhauer Fritz Wotruba (1907–1975), der 1939 aufgrund seiner sozia­listischen Ge­sin­nung zusammen mit seiner jüdischen Frau Österreich verliess und mithilfe des damaligen Zuger Bundes­rats Philipp Etter im provin­ziellen Zug im Exil lan­dete. Er freundete sich mit dem Privat­bankier Fritz Kamm (1897–1967) und dessen ebenfalls aus Wien stam­menden Frau Editha (1901–1980) an. Anfänglich unter­stützte Kamm Wotruba mit Werk­ankäufen, die wohl haupt­sächlich freund­schaftlich begründet waren, doch ent­wickelte sich bei dem Laien bald ein echtes Interesse an der bildenden Kunst. Als 1953 in Wien die traditions­reiche Galerie Würthle zum Verkauf stand, erwarb sie Kamm und überlies Wotruba die künst­lerische Leitung. Von 1953 bis 1965 stellte Wotruba im kulturell iso­lierten Wien die inter­nationalen Strö­mungen vor,  insbesondere französische und deutsche moderne Kunst, und zeigte die Wiener Avantgarde-Künstler, die durch den Krieg in Verges­senheit ge­raten waren. Ein Markt für diese Kunst war gleich­wohl noch nicht vorhanden: die Galerie verkaufte nicht viel; dafür wurde sie zu einem wichtigen intel­lektuellen Treff­punkt.

Künstler als Berater
Fritz Kamm, der sich stets im Hinter­grund aufhielt, verliess sich auf Wotruba beim Ankauf der Werke, so dass die Sammlung die Interessen des Bild­hauers wider­spiegelt. Die expressionistischen Gemälde des eigen­sinnigen Richard Gerstl, der im Ruhm seinen Zeit­ge­nos­sen immer noch nachsteht, nehmen eine zentrale Stellung ein. Einige davon sind inzwischen durch strategische Tausch­geschäfte mit dem grössten Sammler der Wiener Moderne, Rudolph Leopold, im Wiener Leopold Museum einem breiten Publikum zugänglich. Wotrubas Vor­liebe für expressionistische Bilder kommt auch in der beträcht­lichen Anzahl von Zeichnungen von Oskar Kokoschka zur Geltung, insbe­sondere den Sze­nen­bil­dern zu seinem Drama «Mord, Hoffnung der Frauen I» (1910). Prostitution und Gewalt als Bild­themen bei Kokoschka, aber auch die obszönen Frauen­akte Egon Schieles, von dem sich viele Zeich­nungen in der Sammlung befinden, richteten sich gegen die konventio­nellen Genres der Akademien und hielten der Gesell­schaft schonungslos ihre Kehr­seiten vor. Wotrubas Einkäufe in den dunkeln Gefilden hielten sich jedoch in Grenzen. «Fritz Kamm war dem allzu Extremen eher abgeneigt», erzählen die Tochter Christa Kamm und ihre Schwä­gerin Christina Kamm-Kyburz. «Als er zum ersten Mal das Bild mit einer Ver­ge­wal­ti­gungs­szene von Picasso sichtete, das er, ohne es gesehen zu haben, gekauft hatte, gab er es unver­züglich Wotruba als Geschenk zurück.»
Neben den Expressionisten sind in der Sammlung Kamm auch Künstler der Wie­ner Secession wie ihre Gründer Gustav Klimt, Koloman Moser und Josef Hoff­mann vertreten. Vergleich­bar den Sezessions-Bewegungen in Paris, Mün­chen oder Berlin, entstand 1897 die Secession in Wien als Abspaltung von den tradi­tionellen akademischen Insti­tutionen. Von Klimt sind wichtige Land­schafts­gemälde enthalten, «Tannenwald I» (1901), «Italienische Garten­landschaft» (1913) und «Garten­landschaft mit Bergkuppe» (1916), in denen sein Spektrum von stim­mungs­vollen, pointilisitisch aufgebauten Bild­flächen bis zu grafischen Sti­li­sie­rungen durch radikale Rhythmi­sierungen und schwarze Umrandungen zum Ausdruck kommt.

Ergänzung mit Wiener Werkstätte
Klimt, Hoffmann und Moser weiteten ihre Reform­bestrebungen in der bil­denden Kunst zunehmend auf andere Bereiche aus, auf Architektur, Innen­einrichtungen, Möbel- und Geschirr­design. Nach dem Vorbild der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung gründeten sie 1903 die Wiener Werk­stätte, um Kunst, Architektur und Handwerk mit dem Anspruch eines Gesamt­kunst­werks zu ver­bin­den und or­ga­ni­siert als Pro­duk­tions­stätte, ihre Produkte besser zu vermarkten. Es ist den Nach­kommen von Kamm, Christa Kamm, ihrem Bruder Peter Kamm (1935–2008) und dessen Frau Christine Kamm-Kyburz, zu verdanken, dass die Sammlung mit zahl­reichen Objekten der Wiener Werk­stätten ergänzt worden ist und dadurch die Verbindung von bildender und angewandter Kunst sichtbar wird. Mit dem Nach­lass von Josef Hoffmann, den die Nach­kommen in den 1970er Jahren erwer­ben konnten, ist ein Gründungs­mitglied und Haupt­vertreter der Wiener Werk­stätte prominent in der Sammlung vertreten.
Überhaupt ist es ein Glück, dass die Nach­kommen die Sammlung nach dem Tod von Fritz und Editha Kamm ge­halten und mit viel Interesse weiter «bewirt­schaftet» haben. Sie verkauften lediglich Stücke, die nicht in der Haupt­aus­rich­tung lagen und stärkten das Kern­thema der Wiener Moderne mit weiteren An­käufen. Trotzdem sind auch französische und deutsche Werke er­halten ge­blie­ben: Fernand Léger, Juan Gris, August Macke, Oskar Schlemmer, Ernst Ludwig Kirchner und Paul Klee sind nur einige der Namen.
Die Nachkommen pflegten die Be­zie­hung zu Fritz Wotruba weiter. «In der Freund­schaft zu meinen Eltern, nicht in kommer­ziellen Interessen, ist die Samm­lung begründet und nahm alles seinen Anfang», betont Christa Kamm mit Nachdruck. An diese Freund­schaft erinnern Wotrubas zahl­reiche Skulp­turen, Zeichnungen und Aquarelle in der Sammlung. Seine im Aussen­raum des Kunst­hauses aufgestellten Werke ver­weisen auf die Ereignisse, die zur Wiener Moderne am Zuger­see geführt haben.
Freundschaft als Sammlungsbasis.
Fritz Wotruba und das Ehepaar Kamm


Publiziert in:
«Kunsthaus Zug»
Sonderpublikation des bulletins der Credit Suisse
Juni 2011, S. 10/11.

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