Bei meinem Besuch des Pirelli HangarBicocca schien die Sonne. Sie drang durch die Öffnungen im Dach des «Shed», der Ausstellung­shalle für junge Künstler, und beleuchtete die Installation, die Giorgio Andreotta Calò (*1979, Venedig) aus seinen Werken geschaffen hat. Vielen dürfte Calò von der 57. Biennale in Venedig (2017) bekannt sein, als er im italienischen Pavillon im Arsenale mit der Architektur, dem Wasser und Licht eine atmosphärisch dichte Installation schuf. Auch in Mailand entsteht ein Raum, in dem sich physische und meta­phorische, örtliche und zeitliche Ebenen durch­dringen. Konkrete geo­grafische Orte und materielle Zeugnisse werden zum Ausgangs­punkt verschiedener Erzählungen, sei es die Geschichte von Pirelli, des Kohle­abbaus auf Sardinien oder nicht zuletzt der Bio­graphie des Künstlers und der Ent­stehung von Kunst an sich.

Den heraus­fordernden Dimensionen des «Shed» von 15’000 m2 begegnet Giorgio Andreotta Calò mit szeno­grafischen und drama­turgischen Mitteln. Die Ausstellung beginnt mit einem filmischen Tauch­gang zu einem Wrack in hundert Meter Tiefe, zu einem Ereignis, das hundert Jahre zurück­liegt. Damals sank das Schiff «Città di Milano» der Firma Pirelli Cavi, die damit Kabel auf dem Meeres­grund verlegte. Von der Video­projektion folgt man zahlreichen auf dem Boden ausgelegten röhren­förmigen Sediment­proben aus dem Untergrund der Lagune in Venedig und Sulcis Iglesiente auf Sardinien. Auf dem Weg begegnet man einem ein­drücklichen Stück Kabel, hölzernen Quallen, bronzenen Muscheln und vom Wasser zersetzten, in Bronze gegossenen Pfählen, die in Venedig als Navigations- und Anlege­hilfe dienen. Auf der anderen Seite des «Shed» geht es in die Höhe. Eine über zehn Meter grosse Foto­grafie zeigt Mailand aus dem 31. Stock des Pirelli-Turms. Ein abge­dunkeltes Zimmer fungierte als Camera Obscura. Das Bild steht kopf­über, der schwarze Himmel wird zum Meer, aus dem die Stadt auftaucht.

Die beiden Werke am Anfang und am Ende des «Shed» bilden die beiden Pole, die sich in den Arbeiten dazwischen spiegeln: Ab­tauchen-Auf­tauchen, Wasser-Licht, unten-oben. Hinzu kommt die Zeit, in der sich Objekte verändern, von einer Form in eine andere übergehen und schliesslich zu Skulpturen werden. Das gilt für die ein­zelnen Werke aber auch für die Aus­stellung als Ganzes. Wäre ich bis zum Sonnen­unter­gang geblieben, hätte ich beobachten können, wie die herein­brechende Dunkel­heit «Città di Milano» im Meer versinken lassen und vollends in ein Unter­wasser-Environment verwandelt hätte.

Giorgio Andreotta Calò

«Giorgio Andreotta Calò – Città di Milano»
Pirelli Hangar Bicocca, Mailand
14. Februar bis 21. Juli 2019
pirellihangarbicocca.org

Publiziert in:
Kunstbulletin 5/2019, S. 74.
artlog.net

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