Ein Picknick – das bedeutet Wärme, Leichtigkeit und Ungezwungenheit. Es ist ein sozialer Anlass, ein Ausflug unter Freunden zur Zerstreuung und zum vergnügten Beisammensein. In der gegenwärtigen Situation der Pandemie ist es all das, was uns fehlt. Und so laden die drei befreundeten Berner Künstler Christian Grogg, Alexander Jaquemet und Adrian Scheidegger trotz kälteren Temperaturen, steigenden Covid-Zahlen und einem erneut drohenden Stillstand zum Picknick in der Galerie Vinelz. Es ist das zweite nach sieben Jahren, für das sie sich wieder treffen und ihre Werke gemeinsam ausbreiten.
Die Einladungskarte zur Ausstellung versinnbildlicht die Freundschaft und der künstlerische Austausch der drei Künstler. Die Fotografie zeigt einen Steg, der zu einem Holzhaus inmitten eines Sees in freier Natur führt. Wir wissen nicht, von wem das Bild stammt, die Autorschaft steht nicht im Vordergrund. Wichtig ist, dass die drei Künstler es gemeinsam gewählt haben. Und so bildet die Einladungskarte den eigentlichen Einstieg in diese Gemeinschaftsausstellung. Die Fotografie, die durch ihre Unschärfe ins Malerische tendiert, führt zu Alexander Jaquemet und Adrian Scheidegger, die beide in den zwei Medien arbeiten. Über die zueinander ins Verhältnis gesetzten Bildelemente von Steg, Fassade und Fenster kommen wir zu Christian Groggs architektonischen Objekten und gemalten Raumillusionen.
Im Dachstock, in dem die Galerie Vinelz haust, stehen wir nun erneut vor diesem Steg. Diesmal präsentiert er sich als acht Meter langer Druck, der von einem Unterbau getragen über zwei Treppenstufen in einen tiefergelegenen Raum hineinragt. Seine Verjüngung beschleunigt die perspektivische Wirkung und scheint ihn, von dieser Position aus betrachtet, bis ins Endlose zu verlängern. Der Steg ist ein Gemeinschaftswerk, das Christian Grogg, Alexander Jaquemet und Adrian Scheidegger speziell für ihr Picknick in Vinelz geschaffen haben. In der Ausstellung dient er als wichtiges szenografisches Mittel. Er suggeriert Landschaft als konzeptuelles Setting, um die Werke dreier individueller Künstler zu betrachten. Diese Landschaft beschreibt ein Habitat, das auf vielen Gemeinsamkeiten gründet, aus dem aber unterschiedliche künstlerische Oeuvres hervorwachsen.
Das Bild des Stegs als Teil eines Landschaftsraums und als verbindendes Element begleiten unseren Gang durch die Ausstellung. So schreiten wir nicht entlang der Wand von einem Werk zum nächsten, sondern bewegen uns im Raum und setzen die Werke kreuz und quer miteinander in Beziehung. Die Künstler, das wird schnell klar, haben keine «Kleinigkeiten» (nique) mitgebracht, die wir beiläufig «erschnappen» (piquer). Es sind überwiegend grossformatige Werke und Arbeiten mit starker räumlicher Wirkung. Sie zeigen uns, wie unterschiedlich Bilder mit uns als Betrachtende und untereinander kommunizieren.
Gleich beim Eingang, in einem kabinettähnlichen Raum begegnen wir zwei fotografischen Arbeiten von Alexander Jaquemet, die verschiedene Massstäbe und Geschwindigkeiten aufweisen. Schwarzweisse Ansichten einer wolkenverhangenen Bergwelt stehen einer Serie flüchtig erhaschter kleiner Vögel in einer Buschlandschaft gegenüber. Um die Ecke betreten wir einen länglichen Raum. Schon von weit her leuchtet Scheideggers signalhaftes Gemälde, das, aufgebaut aus sich wiederholenden, gelblichen Elementen auf schwarzem Hintergrund, an ein Piktogramm erinnert. Seine direkte Formensprache wird vis-à-vis von Christian Groggs Gemälde erwidert, das durch seine Farben und eine Form, die in zwei Grössen verdreht übereinandergelegt ist, eine starke Dynamik nach aussen entwickelt. Diese unterscheidet sich stark von Scheideggers benachbartem Tuschgemälde, in dem durch die Umkehrung der Leinwand die Farbe in der Mitte der Leinwand zusammenfloss.
Wir gehen weiter und drehen uns um Groggs 2,8 Meter hohen Obelisken, der als Landmarke mitten im Raum steht. Sein Volumen, seine blauen Farbschattierungen ändern sich mit unserer Bewegung. Gewissheiten lösen sich auf und wir verlassen den festen Boden unter den Füssen. Treiben wir schon auf dem Wasser wie ein Eisberg? Wir blicken in die Ferne, die der Steg vorgibt, und werden von einem blauen fast monochromen Gemälde von Alexander Jaquemet angezogen. Auf dem Weg dahin wird das Licht plötzlich von Groggs geschwungenen Plexiglasformen reflektiert, die wie Wolken an der Wand dahinziehen. Oder funkeln sie eher wie eine Lichtspiegelung auf der Wasseroberfläche? Hier am Ende des Stegs sind oben und unten keine festen Orientierungsgrössen mehr. Jaquemets Blau ist gleichermassen Wasser wie Himmel.
Die Illusion des endlosen Stegs wird abrupt mit der Wand des Ausstellungsraums beendet. Wir drehen uns um, und Christian Grogg hilft uns mit einer kleinen Skulptur, die an ein Architekturmodell erinnert, zu Distanz und Räson. Aber nur scheinbar, denn schon im nächsten Augenblick erscheinen die Wände fragmentiert, ohne sicheren Halt und Verortung. Alexander Jaquemets unterstützt diese Einschätzung mit einer grossen Schwarzweissfotografie aus seiner Serie der «Chiffren». Die Ansicht einer Waldlandschaft, in der verschiedene Äste zu einer Pyramide aufgestellt wurden, setzt sich aus über achtzig Einzelblättern zusammen. Realität, so scheint sie uns zu sagen, ist eine Konstruktion. Die «Chiffre» kann mit unzähligen Erzählungen entschlüsselt werden. Adrian Scheidegger lächelt mit geschlossenen Lippen. Sein anfangs besprochenes Gemälde heisst lapidar «Der Pisser» und unterwandert weitschweifende Interpretationen.
Wir setzen uns auf den Steg und lassen unsere Füsse baumeln, legen uns eine Weile auf das warme Holz. Die Eindrücke des Gesehenen verbinden sich vor unseren Augen, wie die Geschmäcker der Mahlzeiten eines Picknicks im Gaumen. Dann gehen wir noch einmal über den schmalen Steg zurück und gelangen in eine Ecke, in der die Wände mit kleinformatigen Zeichnungen, Gemälden, Objekten und Fotografien aller drei Künstler bestückt sind. Sie führen uns von der grossen offenen Landschaft der Ausstellung in eine intimere Atelieratmosphäre. Dorthin, wo Christian Grogg, Alexander Jaquemet und Adrian Scheidegger auch immer wieder alleine auf sich gestellt sind und im Zwiegespräch mit sich selbst an ihren Werken arbeiten, bevor sie sich spätestens in Vinelz wieder zum grossen Picknick treffen.
Picknick Vinelz – Christian Grogg, Alexander Jaquemet und Adrian Scheidegger
«Picknick Vinelz»
Galerie Vinelz
1. November bis Dezember 2020
jaquemet.com
adrianscheidegger.ch
Saalblatt zur Ausstellung
→ PDF