Zeichnung, Skulptur und Installation befinden sich bei Miriam Sturzenegger in einer symbiotischen Beziehung. Die Zeichnung braucht den räumlichen Körper wie die Installation die Leichtigkeit und Schnelligkeit der Linie.
Von den ersten Zeichnungen an, die nach 2007 entstanden, war die gegenseitige Bedingung von Trägermaterial und Zeichnung Ausgangslage für Miriam Sturzeneggers künstlerisches Schaffen. Der Untergrund diente ihr nicht lediglich als Bildträger, sondern als Grund in zweifacher Bedeutung : als Anlass für das Zeichnen sowie als Boden, der die Zeichnung hervorbringt und sie im Papierraum verortet. Mit Vorliebe verwendete Sturzenegger Papiere, die bereits Gebrauchsspuren aufwiesen, auf die sie im Zeichenprozess reagieren konnte. Der Untergrund diente ihr nicht lediglich als Bildträger, sondern als Grund in zweifacher Bedeutung: als Anlass für das Zeichnen sowie als Boden, der die Zeichnung hervorbringt und sie im Papierraum verortet.
Die mit Bleistift gezogenen, gesetzten und geschriebenen Linien und Zeichen sind fein, fragmenthaft, andeutend. Sie wirken wie Spuren von Gedanken, die auftauchen, ansetzen und wieder entschwinden, bevor sie sich verhärten. Häufig finden sich dabei auch Worte oder kurze Sätze: Zeichnen und Schreiben sind bei Miriam Sturzenegger nah beieinander. Beide Vorgänge ergeben sich aus einem wechselseitigen Prozess zwischen Wahrnehmen, Denken und dem Materialgrund. Des Öfteren begegnet man andeutungsweise einem Kopf oder einer Hand, die auf diese Beziehung verweisen. Der offene, unabgeschlossene Gestus erinnert an die Zeichnungen von Joseph Beuys, der Zeichnen als Denkform verstand und als solche in seiner künstlerischen Tätigkeit einsetzte.
Viele Zeichnungen von Miriam Sturzenegger tragen einen ephemeren Charakter, der von einer gedanklichen Suchbewegung zeugt. Dieser Schwebezustand findet sich auch in Werken, bei denen die Künstlerin den Zeichenvorgang zufälligen, äusserlichen Einwirkungen überliess. Für Passagen (2011) beispielsweise trug die Künstlerin Papierblätter über eine gewisse Zeit in ihrer Tasche mit sich, die durch die Ablagerungen, Abdrücke oder Abriebe verschiedener Stoffe ihre Zeichnungen erhielten.
Als möchte Miriam Sturzenegger der Flüchtigkeit der Spuren – sei es eines Gedankens oder eines Ereignisses – Halt und Gewicht verleihen, versieht sie ihre Zeichnungen mit zusätzlichen Trägern. Ihre Zeichenbücher beispielsweise präsentiert sie aufgeklappt als Objekte, sodass Zeichnung und Buch eine untrennbare Einheit bilden. Sie verbindet Zeichnungen mit Gipsplatten oder integriert sie in ihre skulptural-räumlichen Werke – so in den frühen Installationen aus zusammengefügten Holzplatten (bis circa 2011) –, indem sie einzelne Zeichnungen auf die Platten aufzog. Die Künstlerin verschafft damit dem Ephemeren der Zeichnung einen Körper und setzt es mit skulpturalen und räumlichen Aspekten wie zum Beispiel der Bewegung des Betrachters oder der Beschaffenheit des architektonischen Raums in Beziehung.
Das Interesse von Miriam Sturzenegger für das Skulpturale und den Raum hat sich in jüngster Zeit verstärkt und einen neuen Aspekt der Zeichnung in ihre Arbeitsweise eingebracht. Diese ist hier nicht mehr präsent als mäandrierende Spur eines Gedankens oder als Abdruck. In den subtilen Interventionen mittels minimaler skulpturaler Elemente findet sie sich eher im Plan, der den Raum organisiert, und in der Ordnung architektonischer Teile, wie Leisten oder Wandfelder. In der Betrachtung dieser räumlichen Arbeiten erkennt man jedoch die konsequente Weiterentwicklung der Ansätze und Interessen, die Miriam Sturzenegger in der Zeichnung angelegt und verfolgt hat – nicht zuletzt in den minimalen skulpturalen Eingriffen, die leicht und andeutend wie die gezeichnete Linie das vorhandene Gefüge verändern.
Dem Flüchtigen einen Ort geben.
Zur Zeichnung bei Miriam Sturzenegger
«Überzeichnen. Von Basel aus»
Kunsthaus Baselland, Muttenz/Basel
18. September bis 19. November 2015
kunsthausbaselland.ch
m-st.ch
Publiziert in:
Ines Goldbach, Cécile Hummel (Hg.)
Überzeichnen. Von Basel aus
Ausst.-Kat. Kunsthaus Baselland
Zürich: edition fink, 2015, S. 37–38.
editionfink.ch
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