Zur Ausstellung Martin Ziegelmüller – Weites Feld erscheint im Kerber Verlag ein umfangreicher, empfehlenswerter Katalog. Darüber hinaus baten wir die bekannte Zürcher Kunsthistorikerin Meret Arnold, sich mit dem Werk – und auch dem Künstler – Martin Ziegelmüller auseinanderzusetzen.
Eine Landschaft von Martin Ziegelmüller zu betrachten, ist, als würde man auf seinem Weg einen Moment innehalten, um etwas genauer anzuschauen: eine Spiegelung, ein paar Schilfhalme oder den Fleck Wiese mit blauen Blumen. Vielleicht setzt man sich hin und verfolgt die Strömung des Wassers oder beobachtet, wie der Himmel bei ankündigendem Regen in schwerem Grau versinkt. Was an diesen Gemälden fasziniert, ist weniger das erkennbare Bild, als vielmehr die ästhetische Erfahrung, die sie transportieren. Sie vermögen es, beim Betrachter verschiedene sinnliche Erlebnisse, die im Gedächtnis gespeichert sind, zu aktivieren. Ziegelmüllers Morgendämmerungen lassen uns die Frische im Gesicht fühlen, seine Flussufer die feuchte Erde riechen und das Leuchten der Farben eines Bergrückens oder einer Wolke bei Sonnenuntergang sehen. «Es kann kein faszinierendes Bild geben», so Ziegelmüller, «wenn der Maler nicht von seiner Ausgangslage fasziniert gewesen ist – sei es von einer Stimmung, sei es von einer Form. Es muss etwas sein, das ihn emotional berührt hat.»
Von diesem «Etwas» lässt sich der sechsundsiebzigjährige Maler leiten und zu immer neuen Bildern anspornen. Sein Oeuvre ist in den über sechzig Jahren ununterbrochenen künstlerischen Schaffens auf mehrere tausend Gemälde (hauptsächlich in Ölfarbe), Aquarelle, Zeichnungen und Lithografien angewachsen. Die Landschaften bilden die grösste Werkgruppe. Aufgewachsen im Oberaargau und seit langer Zeit im Seeland wohnhaft und tätig, traf Ziegelmüller direkt vor der Haustür auf seine Landschaften. Wassermotive und die Vegetation an den Ufern der Oenz, aber auch dem Doubs oder der Loue, wo sein Wohnwagen stationiert ist, das Grosse Moos und die ins Seeland abfallenden Hänge des Jura tauchen in seinem Werk immer wieder auf.
Der Blick auf die Natur ist bei Ziegelmüller nie verklärend. Zu stark war sie Teil seines Alltags und über lange Zeit Existenzgrundlage. Seine fünfköpfige Familie versorgte sich über die Jahre selbst mit dem Gemüse aus dem Garten, den Fischen aus dem See und dem Fleisch aus der hauseigenen Kaninchenzucht. Dieses Modell ermöglichte Ziegelmüller, sein Leben als Maler in grösstmöglicher Unabhängigkeit zu führen und ist daher auch nicht mit Aussteigertum zu verwechseln. Er hat den Städten nie den Rücken gekehrt. Eher war seine Beziehung zu ihnen von Skepsis geprägt, die in Unmut kippte, wenn er ihr unbändiges Wachstum in den siebziger Jahren verfolgte. Seinem Ärger machte er Luft, indem er Bern, Freiburg oder Zürich malend in Ruinenstädte verwandelte, sie überschwemmen oder von einer neuen Eiszeit heimsuchen liess. Er offenbarte aber auch seine Faszination gegenüber dem Phänomen Stadt: 2003 malte er eine Serie nächtlicher Ansichten, in denen er mittels Lichtpunkten auf schwarzem Untergrund die Städte als atmosphärisch Leuchtkörper zeigte.
Von den zahlreichen Themen in Ziegelmüllers Schaffen zieht sich einzig die Portraitmalerei kontinuierlich durch. Landschaften und Stadtbilder wechseln sich ab, als ob er nach einer Phase in der Natur das Bedürfnis nach der Zivilisation verspürte oder umgekehrt. Praktische Gründe haben die Wechsel zwischen anderen Motiven: «Wenn ich über lange Zeit, Wasserbilder mache, bei denen mein Blick immer leicht nach unten gerichtet ist, dann kommt das Bedürfnis auf, den Kopf zu heben. Und so folgen darauf Wolken- und Himmelbilder.» Ziegelmüller arbeitet nie abschliessend an seinen Motiven. Sie verschwinden und stehen plötzlich wieder da, wie beispielsweise seine Kristallbilder aus den siebziger Jahren, von denen gegenwärtig neue Bilder zu einer grossen Serie heranwachsen. Erklären kann sich das Ziegelmüller auch nicht ganz. Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass er nicht Themen abarbeitet, sondern immer auf der Suche nach den «richtigen» Farbtönen, Formen und Techniken ist, um seine wahrgenommenen Bilder nach aussen zu kehren. Nicht von ungefähr ist Paul Cézanne, der ein Leben lang mit kämpferischer Ausdauer um eine Darstellungsweise gerungen hat, ein faszinierendes Vorbild für ihn.
Im Gegensatz zu Cézanne und vielen anderen Malern jener Zeit, trägt Ziegelmüller die Staffelei jedoch nicht ins Freie. In der Natur und auf seinen Reisen nutzt er die Zeichnung und das Aquarell, um mit der Fülle an Eindrücken, denen er ausgesetzt ist, umzugehen. Danach braucht er den Rückzug ins neutralere Atelier: «Ich bin ein Maler, der schnell vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Wenn ich mich umschaue, ist da derart viel Faszinierendes, dass es schwierig ist, die wichtigsten Dinge zu erkennen.» Hier kommt Ziegelmüller der menschliche Wahrnehmungsapparat zu Hilfe, der wie ein Filter, alles «Unwichtige» ausscheidet. Bevor er im Atelier mit dem Malen beginnt, erinnert er sich vor der leeren Leinwand, an das, was er wahrgenommen hat und stösst dadurch zum wesentlichen Kern vor. «Ich habe vor langer Zeit entdeckt, dass die Erinnerung im Grunde der erste Vorgang ist beim Malen. Denn: ich erinnere mich nur an die Dinge, die mich beeindruckt haben (O-Ton: «diä i mich inä si»), beispielsweise ein Stein im Wasser oder eine Stromschnelle.» Um die Detailfragen zu lösen, nimmt er seine zahlreichen Skizzen und Aquarelle zur Hand oder durchforstet seine Sammlung von Fotografien.
Martin Ziegelmüller war und ist ein genauer Beobachter und studiert seine Motive mit beinahe wissenschaftlicher Neugierde. Er wusste aber stets, dass eine Sache nicht aus der Summe der Teile entsteht. Erst durch ihren Ausdruck, der über das Erklärbare hinausgeht, wird sie lebendig. Das Bestreben, die Beobachtung mit dem Ausdruck zu verbinden, ist in allen Bildern spürbar – in der Reihe von toten Käfern und Insekten, in den zahlreichen Portraits, aber auch in den vielen Werkgruppen, die in verschiedenen industriellen Betrieben und im Operationssaal der Herzchirurgie in Basel entstanden sind.
Betrachtet man Ziegelmüllers Gesamtwerk, zeigt sich in jüngerer Zeit die Tendenz zu extremeren Bildausschnitten und abstrakteren Darstellungsmitteln. Er scheint sich zunehmend von seinen Vorlagen zu lösen, um das Spezifische eines Menschen oder die Atmosphäre einer Landschaft stärker hervorzuheben. Die wachsende Erfahrung des Malers und die dabei gewonnenen malerischen Möglichkeiten haben sicher zu dieser Entwicklung beigetragen. Insbesondere wird die Tendenz in seinen Landschaftsbildern sichtbar. Ab 2005 entstehen Pflanzenlandschaften, die Ziegelmüller aus ihren Umrissen löst und in farbigen Strukturen eine neue, abstraktere Ausdrucksweise findet. Seine Morgenstimmungen werden zu fast monochromen Farbflächen, die den Morgen rein durch Farbtöne zu erzeugen vermögen.
Hier zeigt sich, dass Ziegelmüller gerade in der Verwendung von ähnlichen Motiven die Herausforderung für seine Malerei findet. Der Macht der Sehgewohnheit und Malroutine ist er sich dabei stets bewusst. «Solange das Malen für den Maler abenteuerlich ist, weil er sich nicht ganz sicher ist, wie es geht, hat er noch eine Chance. Weiss er, wie es geht, sollte er besser aufhören», sagt Martin Ziegelmüller und man sieht sogleich, dass dies bei ihm längst nicht der Fall sein wird. Seine konzentrierte, leicht ernste Miene lässt nur erahnen, wie viele Fragen ihn beschäftigen und auf Antworten warten.
Werkporträt von Martin Ziegelmüller
«Weites Feld. Martin Ziegelmüller. Ein Werküberblick»
Kunstmuseum Bern
20. Mai bis 14. August 2011
kunstmuseumbern.ch
Kunsthaus Langenthal
19. Mai bis 10. Juli 2011
kunsthauslangenthal.ch
Publiziert in:
«Kunstmuseum Bern»
Sonderpublikation des bulletins
der Credit Suisse Mai 2011, S. 14–15.